Euthanasie Sterbehilfe im Tierpark
Nachwuchs ist im Zoo nicht immer willkommen. Wohin mit überzähligen Tieren? Vielen von ihnen droht die Giftspritze
Das griechische Wort Euthanasie bedeutet so viel wie der gute, schöne, leichte Tod. Anfang Mai starben im Magdeburger Zoo drei neugeborene Tiger eines solchen schönen Todes. Den Tierbabys – kerngesund und mit Kuschelfaktor Knut – wurde kurz nach der Geburt die Todesspritze gesetzt. Denn sie hatten einen Makel: Ihr Erbgut entsprach nicht den Anforderungen des internationalen Erhaltungszuchtabkommens der Zoos. Dem zufolge – so erklärte Magdeburgs Zoodirektor Kai Perret – zähle »die Zucht reinerbiger und hoch bedrohter Arten« zu den obersten Zielen eines Zoos.
Das wurde den Tigerbabys zum Verhängnis. Noch während sie im Bauch ihrer Mutter Kolina heranwuchsen, ergab ein Gentest, dass ihr Vater, der sibirische Tiger Taskan, eben nicht reinrassig ist. Zu seinen Vorfahren zählten offenbar auch Sumatratiger. Als dies bekannt wurde, war der Zeitpunkt für eine Abtreibung schon überschritten. Und da die kleinen Tiger für die Zucht nicht zu gebrauchen seien und »den eingeschränkten zur Verfügung stehenden Platz für die wichtige Erhaltungszucht blockiert« hätten, sei die Tötung nötig gewesen, sagte Perret damals.
Nun sagt er erst einmal gar nichts mehr, weil die Magdeburger Staatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz ermittelt und Perret nicht in das laufende Verfahren eingreifen will, wie seine Pressesprecherin erklärt. Tierschützer vom Bundesverband Menschen für Tierrechte und der Organisation Animal hatten gemeinsam Anzeige erstattet und damit den Staatsanwalt in Marsch gesetzt.
Die Angelegenheit könnte sich noch ausweiten. Denn der mischerbige Taskan hat eine ganze Reihe von Brüdern und Schwestern. Er ist der Nachkomme eines Tigerkaters, den es zusammen mit einer Tigerkatze vor Jahren aus einem russischen Zirkus in einen Zoo in der Ukraine und von dort nach Westeuropa verschlug. Als »reinrassige sibirische Tiger« waren die Zirkustiere deklariert – bis die moderne Gentechnik zeigte, dass das zumindest im Falle des Katers nicht stimmt. Doch da hatte der bereits eine ganze Schar falscher Sibirier gezeugt. 31 Nachkommen von ihm sind derzeit auf 17 europäische Zoos verteilt. Was soll nun aus ihnen werden? Steht auch ihnen der »schöne Tod« bevor? Kommende Woche wird sich ihr Schicksal entscheiden, wenn die europäischen Zoodirektoren auf ihrer Jahreskonferenz über die Tiger beraten. Schon jetzt laufen Tierrechtler Sturm gegen das womöglich bevorstehende große Tigermassaker in Europas Zoos.
Die Tiger selbst wiederum sind nur eine Facette eines sehr viel größeren Themas, das Zoobesucher gerne verdrängen und Zoos ebenso gerne vertuschen: das Sterben im Zoo. Die Tiere im Käfig müssen ihr Leben keineswegs nur aus natürlichen Ursachen – Krankheiten oder Altersschwäche – beenden, sondern häufig schlicht wegen Platzmangels. Bei guter Pflege und Fütterung leben Tiere in Gefangenschaft oftmals länger als in freier Wildbahn und vermehren sich dabei recht munter. Da sind die Gehege schnell übervölkert.
Wer integriert den Affen, wer nimmt die schwierige alte Elefantenkuh?
Tiger zum Beispiel werden in Freiheit etwa 15 Jahre alt, in Gefangenschaft rund 25. Reichlicher Nachwuchs aber manövriert die Zoos in eine Zwickmühle. Einerseits sind Tierkinder hochwillkommen, denn sie lassen Besucher- und Umsatzzahlen steigen. Andererseits stellt sich die heikle Frage: Wohin mit den überzähligen Tieren? Vor allem die Männchen werden zum Problem, weil häufig die Rudel zwar mehrere Weibchen, aber nur ein erwachsenes Männchen verkraften.
Die Antwort auf die Herausforderung heißt im Fachjargon »aktives Populationsmanagement«, das drei »bestandsregulierende Maßnahmen« kennt: Die erste und beste Lösung ist es, eine andere »qualitativ vergleichbare« Abnahmestelle zu finden. Aber das ist besonders bei sogenannten schwierigen Tieren nicht einfach. Wer übernimmt die sozial unverträgliche alte Elefantenkuh? Wer integriert einen jungen Bonobo in eine neue Familie? Wer macht sich die Mühe, ein verwaistes Bärenkind per Hand aufzuziehen?
Die zweitbeste Lösung heißt Geburtenkontrolle durch Verhütung. Doch auch die hat ihre Tücken. Die Pharmaindustrie interessiert sich kaum dafür, und die Möglichkeiten der Veterinärmediziner sind oft unbefriedigend. Eine Antibabypille etwa vertragen nur Primaten problemlos, weibliche Raubkatzen bekommen davon häufig Tumore an Gebärmutter und Brustdrüsen. Bären riechen die Pille, wenn man sie ihnen unters Futter mischt, und pulen sie heraus. Implantate werden herausgebissen, Kastration und Dauersterilisation verändern mitunter das Verhalten der Tiere zum Negativen, besonders bei langlebigen Arten wie Elefanten oder Nashörnern. Einzelne Tiere können ihre soziale Stellung einbüßen und die Ordnung in der Herde durcheinanderbringen.
Bleibt die dritte, unpopulärste Möglichkeit: Euthanasie. Der Magdeburger Zoo steckte nach der Geburt seiner Tigerbabys in einem mächtigen Dilemma. Grund ist das internationale Erhaltungszuchtabkommen (EEP). Seit sich die Zoos darauf geeinigt haben, regeln sie mit Zuchtkoordinatoren, wer welche Tierarten züchtet. Auf die Zucht sind die Tiergärten angewiesen, weil das Washingtoner Artenschutzabkommen seit 1984 europaweit den Import beschränkt; eine Tierpopulation darf nicht mehr durch Wildtierfang aufgeforstet werden. Also muss gezüchtet werden, Zucht aber bedeutet immer auch Auslese und das Risiko, »nicht sortierbare« Exemplare zu bekommen, wie es Peter Dollinger, Direktor des Weltzooverbandes (WAZA), formuliert. Das Problem fasst Dollinger in einem Satz zusammen: »Man kann nie auf den Punkt züchten.«
Die Zucht reinrassiger Tiger ist obendrein enorm aufwendig. Tiger sind Einzelgänger, die viel Platz brauchen; mehr als zwei vertragen sich nicht in einem Gehege, das nach derzeitigem Standard an die zwei Millionen Euro kosten kann. Welcher Zoo kann es sich da leisten, seine wertvolle Anlage mit einer nicht zur Zucht geeigneten Großkatze zu besetzen, die irgendwann ohne Nachwuchs stirbt? Daher hat der Magdeburger Zoodirektor – nach Absprache mit dem zuständigen Erhaltungszuchtkoordinator in London – die Todesspritze für die mischerbigen Tigerdrillinge angeordnet.
Wird ein Zoo-Bison als »Haustier« deklariert, darf er verfüttert werden
Wer bejaht, dass in Freiheit bedrohte Tierarten in den Zoos gezüchtet werden, muss ihren Tod akzeptieren. Töten, um zu erhalten? Bei solchen Argumenten gehen Tierrechtler auf die Barrikaden. Die Grünen-Abgeordnete Undine Kurth hat sogar eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, um eine Diskussion darüber anzuregen, ob solche Tötungen nicht zu vermeiden seien. Tierschützer setzen dabei auf eine Besonderheit, die es nur im deutschen Tierschutzgesetz gibt: Der Paragraf 17 erhebt die »Tötung eines Wirbeltieres ohne vernünftigen Grund« zum Straftatbestand, der »mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe« geahndet werden kann. Sollte die Staatsanwaltschaft in den kommenden Wochen also tatsächlich Anklage gegen Zoodirektor Kai Perret erheben, dann könnte es nicht nur für Magdeburg schwierig werden, sondern für alle deutschen Zoos.
Leider aber hat der Gesetzgeber keine Definition dafür mitgeliefert, wann eine Wirbeltiertötung »vernünftig« und damit juristisch unbedenklich ist. Das bleibt Ermessenssache. Dementsprechend umfangreich und kontrovers ist die Sammlung der juristischen Kommentare, die sich mit der Auslegung des Tierschutzes befassen. In einem Punkt jedoch stimmen sie überein: Bei allen Entscheidungen über das Wohl und Wehe der Tiere müsse »die Sicht der Allgemeinheit« berücksichtigt werden.
Vertrackt wird die Rechtslage zusätzlich dadurch, dass für die Zoos dasselbe Tierrecht gilt wie für Schlachthöfe, Hühnerfarmen, Schweinezuchtbetriebe oder Versuchslabors. Das hat mitunter skurrile Folgen. Zum Schutz vor BSE-artigen Krankheiten verbietet eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2002 bis heute, Zootiere an Zootiere zu verfüttern. Früher wurden überzählige Exemplare gemäß dem Räuber-Beute-Verhältnis nach tierschutzgerechter Schlachtung den Fleischfressern vorgeworfen. Heute müssen die Kadaver als Abfall der Kategorie 1 entsorgt werden, und dann wird, gemäß EU-Recht, im Schlachthof wiederum anderes Futterfleisch eingekauft. Im Tiergarten Nürnberg sind das zum Beispiel jährlich 160 tote Rinder.
Im höchsten Maße »unvernünftig« sei diese EU-Verordnung, schimpft Peter Dollinger – und bekommt unerwartete Zustimmung von der Gegenseite: Auch Jörg Luy, der an der Berliner FU den einzigen deutschen Lehrstuhl für Tierschutz und Ethik innehat, hält die Verordnung für »völlig überzogen«. In der Praxis führe sie nur dazu, dass sich einige Zoos am geltenden Recht vorbei darauf verständigt hätten, wie man es auch anders handhaben könne. So gingen etwa manche Zoos stillschweigend davon aus, dass Haus - und Nutz tiere keine Zootiere seien, auch wenn sie in einem Zoogehege stünden. Im Nürnberger Zoo etwa werden nach dieser Logik überzählige Bisons, Büffel und Antilopenhirsche an Raubkatzen verfüttert – allerdings möglichst außerhalb der Besuchszeiten.
Hart an der Gesetzesgrenze verläuft auch manch anderes, was in deutschen Zoos passiert, wenn sich die Tore abends schließen. So ist es laut Tierschutzgesetz verboten, lebende Tiere zu verfüttern. Und jeder Zoodirektor wird treuherzig versichern, dass seine Riesenschlangen nur tot-warme Mäuse bekämen, die man am Schwanz aufgehängt vor ihrer Nase baumeln lasse – sodass sie den Schlangen noch als lebend erschienen. Jörg Luy hat so seine Zweifel, ob man sich tatsächlich überall diese Mühe macht. Tot oder lebendig – »am nächsten Morgen sind die Mäuse jedenfalls alle weg«.
Manchmal sickert aber doch etwas durch. Als etwa im Berliner Zoo ruchbar wurde, dass mitleidige Pfleger dem gelangweilten Eisbär Knut ein paar quicklebendige Fische zum Eigenfang ins Bassin gesetzt hatten, wurde Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz vor einen Umweltausschuss zitiert. Mitte April dieses Jahres musste er sich bei einer Anhörung wegen illegaler Tierversuche und Verstoß gegen das Tierschutzgesetz verantworten.
Die Grünen-Politikerin Claudia Hämmerling hatte Anzeige erstattet, weil angeblich Hunderte von Tieren in den vergangenen Jahren verschwunden wären – vielleicht an dubiose Händler verkauft und als Potenzmittel nach China geliefert. Außerdem wären Jungtiere ohne Bedarf gezüchtet worden, und Inzest käme häufig vor. Nachgewiesen werden konnte keiner dieser Vorwürfe. Die Affäre verlief im Sande.
Folgenreicher war eine Entdeckung, die Anfang 2007 eine Angestellte im Erfurter Zoo machte: Die Population im Gehege der Rehe und Hirsche dezimierte sich auf geheimnisvolle Weise. Im August 2006 waren noch vierzehn Tiere da, im November elf, im Januar 2007 etwa acht, und ein, zwei Monate später hatte sich der Bestand auf sechs Rehe und drei Jungtiere reduziert. Wie sich herausstellte, waren die Tiere nicht etwa von ihren fleischfressenden Nachbarn verzehrt worden, sondern der Direktor Norbert Neuschulz persönlich und einige seiner leitenden Angestellten hatten sie stillschweigend erlegt und das Fleisch gewinnbringend verkauft. Neuschulz wurde später entlassen – allerdings aus anderen Gründen.
»Der Zoo ist keine Volksdemokratie«, wird der Berliner Direktor Bernhard Blaszkiewitz zitiert, womit er einerseits natürlich recht hat. Andererseits sind die Zoos auf nichts so sehr angewiesen wie auf ihre Besucher – und deshalb auf ein gutes Image. Das erzeugt eine gewaltige Spannung. So veröffentlichte etwa 2003 der Weltzooverband ein Konsenspapier von 1300 Zoos weltweit, das die Tötung von überzähligen Nachzuchten zum legitimen Mittel erklärte. Erst im Juli dieses Jahres haben die deutschen Zoodirektoren in ihren »Leitlinien zur Regulierung der Tierpopulation« den Konsens bekräftigt. Wird diese Übereinkunft ernst genommen, könnte sie unter anderem das Ende jener anderen nicht reinerbigen Tiger bedeuten, die die Herkunft von Taskan teilen. Doch zugleich fürchten die Zoodirektoren, Zoff mit Tierrechtlern zu bekommen und bei Medien und Besuchern in Ungnade zu fallen.
Dass solche Befürchtungen berechtigt sind, scheint die öffentliche Anteilnahme zu zeigen, die das Ableben prominenter Zoobewohner häufig begleitet (siehe nebenstehenden Kasten). Müssen die Zoodirektoren also den geballten Volkszorn fürchten, wenn sie ihr Zuchtproblem mit der Todesspritze lösen? Steht »die Sicht der Allgemeinheit« am Ende den Bestimmungen des Erhaltungszuchtprogramms entgegen? Glaubt man Jörg Luy, dann lassen sich durchaus Kompromisse finden. Das Publikum sei zu einem rationalen Umgang mit der Euthanasie im Zoo fähig, wenn es dafür gute Gründe gäbe, meint der Tierschutzprofessor. Eine seiner Doktorandinnen hat das soeben sogar wissenschaftlich nachgewiesen. Für ihre Dissertation hat Wendy Hildebrandt tausend Zoobesucher in Nürnberg und Leipzig befragt. Ergebnis: 80 Prozent der Besucher würden die Tötung überzähliger Tiere aus den Erhaltungszuchtprogrammen akzeptieren, wenn sie darüber richtig informiert würden.
Wer als Zoodirektor vor der Frage steht: »Wohin mit überzähligen Tieren?«, dürfte diese Botschaft erleichtert zur Kenntnis nehmen. Doch heißt das auch, dass demnächst in europäischen Zoos das von den Tierrechtlern befürchtete Tigermassaker startet? Vermutlich wird jeder Zoo zunächst versuchen, eine andere Lösung zu finden. Der Magdeburger Tiger Taskan jedenfalls wurde sterilisiert. Fürs Erste kann er weiterleben, Nachkommen zeugen allerdings nicht mehr.
Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter
www.zeit.de/audio







Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren