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Eigentlich wollte Dag Encke jeden Trubel um das Nürnberger Eisbärenbaby vermeiden. Doch dann entdeckten Medien und Kommunalpolitiker das Tier - und machten den Zoodirektor zum Zuschauer
Gute Nachrichten sind eine begehrte Ware im Nürnberger Zoo. Allzu viele hatte der Tiergarten am Schmausenbuck in letzter Zeit nicht zu vermelden. Im Gegenteil: In die Schlagzeilen geriet der Zoo vor allem wegen einer rätselhaften Todesserie im Delfinarium und wegen des tragischen Unfalltods von Elefantendame Kiri. Proteste von Tierschützern gehörten zur dauerhaften Begleitmusik der Arbeit von Zoochef Dag Encke. Doch dann kam Flocke.
Zunächst hatten die Nürnberger Zoologen die Geburt des Eisbärenmädchens am 11. Dezember 2007 noch geheim gehalten. Um die Jahreswende machten dann jedoch erste Gerüchte die Runde, dass die beiden Polarbären Vera und Vilma, abgeschirmt von der Außenwelt, Nachwuchs großzögen. Und schon war es vorbei mit der Ruhe: Bürgermeister Horst Förther (SPD) erkannte als einer der Ersten das Potenzial knuddeliger Eisbärenbilder aus der Geburtshöhle. Und wurde enttäuscht. Der Einbau von Kameras war versäumt worden.
Während man sich im Rathaus bereits Gedanken um die imagefördernde Vermarktung des Raubtiernachwuchses machte, igelten sich die Zooverantwortlichen ein: Eine Wiederholung der "doofen Knut-Manie" wie in Berlin solle in Nürnberg unbedingt vermieden werden, verkündete Vizedirektor Helmut Mägdefrau. Trotzig fügte er sogar hinzu: Wenn die Eisbären ihre Jungen auffräßen, dann werde man dies nicht verhindern. Dies sei eben der Gang der Natur.
Am 7. Januar geschah genau dies: Weil ihre beiden Jungtiere offenbar aufgrund einer Infektion geschwächt waren, sah Eisbärin Vilma keine Chance mehr auf eine erfolgreiche Aufzucht und vertilgte sie. Als am Tag darauf auch noch Vera ihr Junges aufgeregt durchs Nachbargehege schleppte und Bilder davon im Fernsehen gezeigt wurden, entschloss sich der Zoo zur eigentlich verpönten Handaufzucht. Zu groß war der Druck der Öffentlichkeit kurz nach der Knut-Manie geworden. Dag Encke will bis heute nicht ausschließen, dass erst der zunehmende Medienauftrieb im Aquapark die Nervosität der Eisbärenmutter steigerte und sie aus der Höhle trieb.
Das Unterfangen war dennoch ein riskanter Weg: Die Erfolgsaussichten für eine erfolgreiche Aufzucht liegen aufgrund der Infektionsgefahr in den ersten vier Monaten nach der Geburt bei gerade einmal 50 Prozent. Und zugleich stand der Zoo nun wie nie zuvor im Blickpunkt der Öffentlichkeit.
Auf Weisung der Stadtspitze verbreiteten Tiergartenchef, Tierarzt und Pfleger nun jeden Morgen um acht Uhr ein Bulletin, gaben Auskunft über die Gewichtszunahme des noch namenlosen Eisbärenbabys. Selbst die Zusammensetzung seines Kots wurde haarklein ausgebreitet. Die Bilder der improvisierten Pressekonferenzen liefen live im Frühstücksfernsehen, täglich zur Mittagszeit gab es neue Fotos vom spielenden Wollknäuel.
Man kann nur ahnen, was damals hinter den Kulissen ablief. Im Rückblick gesteht Tiergartenleiter Dag Encke heute jedenfalls ein: Wäre das Eisbärenweibchen verendet, so hätte er wohl seinen Rücktritt erklärt. "Dann wäre der Druck vermutlich zu groß für mich geworden", sagt Encke.
So hätte der Dienstag vergangener Woche eigentlich ein Freudentag für den studierten Biologen aus Krefeld werden müssen. Dutzende Kamerateams, 60 Fotografen und mehr als 300 Journalisten waren angereist, um über den ersten öffentlichen Auftritt der inzwischen auf den Namen "Flocke" getauften und wohlgeratenen Eisbärin zu berichten. Eine Magen-Darm-Infektion hatte sie dank Antibiotika-Verabreichung gut verkraftet, auch die Wehwehchen beim Zahnen hatte das inzwischen 21,2 Kilo schwere Tier unbeschadet überstanden.
Doch auch vor der versammelten Weltpresse machte Encke an diesem sonnigen Frühlingstag keinen Hehl aus seiner gespaltenen Gemütslage: "Sie betreiben hier einen Aufwand, als wenn es um eine weltpolitische Sensation geht", wandte sich der 42-Jährige an die Medienmacher. "Der Schiss eines Eisbären hat mehr Wind in die Nachrichtenkanäle gebracht als so mancher Wirbelsturm."
Eher widerwillig begann im Tiergarten das Umdenken, als Flocke am 8. Januar zum ersten Mal öffentlich das Fläschchen mit Kunstmilch gereicht wurde: Statt die "doofe Knut-Manie" zu vermeiden, gebar man einen "Flocke-Hype". Dag Encke kann auch heute nur ungläubig staunen: "Wir bedienen ein Bedürfnis, wobei niemand weiß, worin dieses Bedürfnis eigentlich besteht", sagt er.
Zweifel, die an anderer Stelle niemandem kamen. Dafür ging es um zu viel Geld, Berlin hatte es mit Knut vorgemacht. Allein vier Millionen Euro spülten dort Knut-Souvenirs in die Kassen des Zoos, 900 000 Besucher mehr als im Vorjahr besuchten den Tiergarten - und bezahlten dafür Eintritt.
Dem wollte man in Nürnberg, der alten Handelsstadt, natürlich nicht nachstehen. Im Internet richtete die Stadt flugs eine Plattform ein, auf der Plüschtier- und Souvenirhersteller ihre Gebote für eine Flocke-Lizenz abgeben durften. Vor der Handelskammer des Nürnberger Landgerichts wurde ein Allgäuer Kräuterbonbonhersteller in die Knie gezwungen, der die allgemeine Bäreneuphorie zum Absahnen von Lizenzgebühren ausnutzen wollte.
Und auch den Berlinern gaben die zunehmend selbstbewusster auftretenden Nürnberger neben- bei noch eins mit: "Knut war gestern", plakatierten sie unter einem flockigen Bärenbild.
Inzwischen sind Parkscheiben, Müsliteller und Nachthemden mit dem Konterfei des kleinen Eisbären auf dem Markt. Wobei man sich durchaus wählerisch zeigte: Ein Eiskratzer wurde abgelehnt, eine Mütze mit weißem Plüschteddy obendrauf dagegen genehmigt. Wer redet da noch von ethischen oder geschmacklichen Grenzen bei der Lizenzvergabe?
Gegen diese Sympathiewelle kommen auch die Tierschützer nur schwer an. Sie müssen schon Staranwalt Rolf Bossi bemühen, um es mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Tiergartenleitung in die Nachrichtenspalten zu schaffen. Zwei ganz verwegene Aktivisten drangen am Dienstag kurz vor Flockes Auftritt sogar in ihr Gehege ein, um in die kurzzeitig auf sie gerichteten Objektive "Stoppt die Tierquälerei" zu brüllen. Nach fünf Minuten ließen sie sich ohne Widerstand abführen.
Für manche ihrer Anliegen hat Dag Encke durchaus Sympathie. Er will Flocke zur Botschafterin für den Klimawandel und die bedrohte Heimat der Eisbären am Polarkreis machen. Illusionen gibt er sich längst nicht mehr hin: "Mit dieser Botschaft werden wir wohl erst in ein paar Monaten durchdringen, wenn sich der Trubel ein wenig gelegt hat", sagt er.
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