Stand: 6. Mai 2009
Fragen & Antworten zum Thema Wilbär und die frühzeitige Trennung von seiner MutterDie Wilhelma meint:
„In der Natur bleiben Eisbären bis zu einem Alter von 1,5 bis 2,5 Jahren bei ihrer Mutter…Dann, ab einem Alter von 1,5 Jahren werden die jungen Eisbären von ihren Müttern verlassen – oder besser davon gejagt.“ (1)
Wir meinen:
Wilbär ist noch nicht einmal 1,5 Jahre sondern erst 1 Jahr und 4 Monate (Ende April 2009) alt! Bei einer jetzigen Trennung liegt er also auch deutlich unter den angegebenen 1,5 Jahren.
Es bleibt also dennoch zu früh.
Zudem sprechen zahlreiche Experten in der gängigen Fachliteratur nicht davon, dass Eisbärenkinder ihre Mutter schon mit 1 Jahr und 6 Monaten (1,5 Jahren) verlassen! Eher wird von 2 bis 2,5 Jahren gesprochen.
Tiergarten Nürnberg auf ihrer Internetseite (2009)
„Abnabelung: 2-2,5 Jahre“
Tiergarten Nürnberg auf ihrer Internetseite (2009)
„Normalerweise blieben in den Zoos die Jungtiere möglichst zwei Jahre bei der Mutter. „Dann sind sie optimal sozialisiert.“ Eine Rückführung des Nürnberger Jungtiers zu Mutter Vera sei nicht mehr möglich. „Sie würde die Kleine nicht mehr als ihr eigenes Junges erkennen“, so Encke.“
Tobias Kauf in seiner Dissertation „Vergleichende Studien zur Reproduktionsbiologie von Großbären“ (2005)
„Nach Verlassen der Höhle werden die Jungtiere mehrere Monate lang (Lippenbären) bis zu zwei Jahren (Eisbär) gesäugt.“
„Verlassen der Mutter: 24-28 Monate“
Lydia Kolter in der „Zeitschrift des Kölner Zoo“ (2006)
„Abnabelung…mit 2,5 Jahren“
EEP Haltungsrichtlinien Bären (2000):
„Geburtsintervall: 2-3 Jahre“
Die Wilhelma meint:
„…wie Forscher an der Hudson Bay beobachteten: Selbst in Zeiten, in denen dort keine jungen Robben als leichte Beute verfügbar waren, blieb der Tisch für Eisbären gut gedeckt…Infolge dessen bekamen die Eisbärinnen bereits alle zwei Jahre Nachwuchs; unter schlechteren Bedingungen liegt der Geburtsintervall eher bei drei bis vier Jahren. Das bedeutet, dass die Weibchen in der Hudson Bay rund 1,5 Jahre nach der letzten Geburt erneut gedeckt wurden, sprich, ihren Nachwuchs mit etwa 1,5 Jahren vertreiben haben.“ (1)
Wir meinen:
Was die Wilhelma bewusst nicht erwähnt ist, dass es sich hierbei um eine absolute Ausnahme in der Eisbärenpopulation der Hudson Bay, es gibt insgesamt 20 Populationen im gesamten Verbreitungsgebiet (2), im Zeitraum von 1972 bis Ende der 80iger (2) handelte. In allen anderen Populationen brachten die Eisbärenmütter nur alle drei Jahre Nachwuchs (2). Seit Ende der 80iger ist die Fortpflanzungsrate in der Hudson Bay auch bereits wieder gesunken (2). Und auch waren nur 40% der 1,5 Jährigen in der Hudson Bay bereits in der Lage, auf sich selbst gestellt zu überleben (2). Man muss also sehr kritisch nachfragen, warum die Wilhelma hier eine veraltete und nicht allgemeingültige Ausnahme als Rechtfertigungsgrund für ihre frühzeitige Trennung benutzt.
Die Wilhelma meint außerdem:
„Die Situation in einem Zoo ist somit wohl noch am ehesten mit der Lage der Eisbären in der Hudson Bay vergleichbar, die dort in relativen Wohlstand leben – nur das im Tierpark die Nahrungssituation noch luxuriöser ist.“ (1)
Wir meinen:
Es ist also absolut absurd eine vor langer Zeit aufgetretene Ausnahme in der Natur, die zudem durch unnatürliche Fakten wie Mülldeponien und Bejagung des Menschen begünstigt wurde, heute als allgemein gültigen Indikator für eine zu frühe Trennung in Gefangenschaft zu nutzen.
Und von einem Wohlstand in der Hudson Bay kann auch nicht die Rede sein, denn nur halbwüchsige Eisbären suchten die Mülldeponien auf, die eindeutig unter Nahrungsmangel litten (2) oder Mütter deren Fettreserven nach Trächtigkeit und Aufzucht ziemlich aufgebraucht waren (2). Hier werden Tatsachen verdreht.
Wir meinen:
Zunächst muss man sagen, dass eine schrittweise und natürliche Abnabelung für einen jungen Eisbären am Ende nicht mehr als brutal oder qualvoll empfunden wird, wie dies bei einer plötzlichen Zwangstrennung der Fall ist.
Der natürliche Abnabelungsprozess ist aber eine sehr wichtige Phase in der Sozialisierung eines Eisbären und sollte von jedem jungen Eisbären auch bis zum Ende durchlebt werden. Gerade durch den länger andauernden Abnabelungsprozess lernt ein junger Eisbär Schritt für Schritt für das zukünftige Zusammenleben mit anderen Eisbären..
So verlaufen spätere Auseinandersetzungen mit anderen Eisbärenindividuen dann unproblematischer, wenn ein Eisbär gelernt hat z.B. Aggressionen zu erkennen und damit richtig umzugehen. Das erlernt er u.a. auch im Abnabelungsprozess.
Viele Eisbären in Zoos, besonders Handaufzuchten, haben diese Phase nicht durchlebt und daher nie gelernt u.a. mit anderen Eisbären friedlich miteinander zu agieren. Wie wichtig dieser Lernprozess jedoch ist, zeigen auch folgende erschreckende Fakten und Aussagen:
Todesursachen Zoo Rostock (1972-1980):
„Zu den häufigsten Todesursachen gehören äußere Gewalteinwirkungen.“ (4)
Internationales Eisbärenzuchtbuch 1994:
„Bis 1995 wurden in Zoos von 168 Eisbären insgesamt 25 meist jüngere weibliche Eisbären durch einen männlichen Eisbären getötet.“
Sandra Langguth (2002):
„Auch bei den in menschlicher Obhut gehaltenen Bärenarten stehen allgemein durch traumatische Einwirkungen bedingte Veränderungen als Todesursache an erster Stelle.“ (5)
S. Stempell; R. Schiewe; Dr. Ralf Wanker (2004):
„Besonders bei Säugetieren kann es zu komplexen Störungen der Verhaltensentwicklung kommen, wenn eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung vorliegt…“ (7)
Wir meinen:
Bei erheblichen Störungen, wie eine zu frühe Trennung von der Mutter oder Handaufzucht, kann es durchaus zu späteren Problemen, wie z.B. Verhaltensstörungen führen.
Prof. Dr. Hanno Würbel (2007):
„Eine beeinträchtigte Sozialisierung durch mangelhaftes mütterliches Verhalten und instabile soziale Gruppen kann später zusätzlich zu sozialen Spannungen sowie Verhaltensstörungen führen.“ (6)
Weitere erschreckende Fakten zu Verhaltensstörungen:
„Laut einer Untersuchung im Jahr 2006 (6) wiesen mehr als 90 Prozent von 33 untersuchten Zoo-Eisbären Stereotypien auf“
Wir meinen:
Zunächst ist ein Abnabelungsprozess meist kein plötzlich eintretendes Ereignis. Die Pfleger können also jegliches Verhalten genau beobachten und rechtzeitig eingreifen. Wenn es gar nicht mehr zwischen beiden funktioniert, kann man beide auch in der Wilhelma gut von einander abtrennen. So könnte Wilbär auf der jetzigen Anlage seines Vaters Anton gehalten werden und Anton könnte wieder mit Corinna auf der großen Anlage leben.
Wir meinen:
Die Wilhelma (1) meint selbst, dass derzeit noch genug freie Plätze für Eisbären gebe.
Es eilt also nicht und man kann also den natürlichen Abnabelungsprozess durchaus abwarten.
Die Wilhelma meint:
„Zumal für einen Eisbärentransport nur die kühlen Tage im Frühjahr oder Herbst, nicht aber die heißen Sommermonate geeignet sind.“ (1)
Wir meinen:
Zunächst können moderner Tiertransportunternehmen ihre Transportwagen mittlerweile soweit herunter kühlen, dass Wilbär nichts von sommerlichen Temperaturen bemerkt.
Und die mehr als 24 Stunden lang andauernde stressige Fahrt bleibt Wilbär auch nicht im Frühjahr oder Herbst nicht erspart.
Das sich die Wilhelma aber in diesem Fall um „sommerliche Wärme“ besonders Gedanken macht ist verwunderlich, sind es doch gerade Eisbären in der Zoo-Gefangenschaft die sich in den langen und besonders heißen Sommermonaten vergebens nach eisigen Temperaturen sehnen.
Wir meinen:
Erfolgreiche und natürliche Aufzuchten durch Eisbärenmütter selbst sind in der Gefangenschaft relativ selten.
Corinna, Wilbärs Mutter, benötigte z.B. sechs Anläufe, bis es mit Wilbär 2007 erstmals zu einer natürlichen Aufzucht kam. Das ist schon recht spät.
Da Corinna mittlerweile 20 Jahre alt ist, und erst mit 18 Jahren ihr erstes Baby (Wilbär) selbst aufzog, zählt sie eigentlich bereits jetzt schon zu den Eisbärenmüttern, die statistisch (3) gesehen in den nächsten 4 Jahren keine oder weniger Babys bekommen und aufziehen wird.
Die Zeit rennt der Wilhelma also davon, um mit Corinna wieder ein süßen Eisbärenbaby und eine natürliche Aufzucht präsentieren zu können.
Der Moskauer Zoo z.B. trennt seine Eisbärennbabies grundsätzlich mit ca. einem Jahr von der Mutter um somit, offensichtlich bewusst, eine hohe Reproduktionsrate zu schaffen. Das dies die Absichten der Wilhelma sein könnten liegt nahe, sind doch weibliche Eisbären von März bis Mai, eher selten bis Juni, paarungsbereit.
Paarungszeit nach Experten:
März-Mai (Jonkel 1978; Kostjan 1934; Seitz 1952; Zalkin 1936)
April-Mai (Stirling/ 2001)
Februar-Juni (EEP Haltungsrichtlinien Bären 2000)
Quellennachweis:
(1) Wilhelma Pressemitteilung vom 23.04.2009
(2) Lydia Kolter/ 2006/ in „Zeitschrift des Kölner Zoo“; Heft 4; JG 49; Seite 168
(3) „Fortpflanzung in den Zoos in Europa zwischen 1984 und 1994“ im „Internationales Zuchtbuch 1994“
(4) 26. Symposium „Erkrankung der Zootiere“, in Brno 1984
(5) „Haltung, Fütterung, Fortpflanzung und Krankheitsgeschehen des Lippenbären in Zoos“ (Dissertation von S. Langguth/ Leipzig 2000)
(6) “Untersuchungen an Eisbären in europäischen zoologischen Gärten: Verhalten und Veränderungen von Stresshormon-Konzentrationen unter Berücksichtigung der Gehegegröße und Gruppenzusammensetzung“ in Dissertation von Ulrike Stephan (2006)
(7) „Der zoologische Garten“ (2004); Band 74; Heft 6