Ein Medienauftrieb der Sonderklasse: 430 Journalisten lassen sich akkreditieren, um am 8.April 2008 »Flocke« erstmals in ihrem Freigehege zu besichtigen. Eine Tribüne ist für die Zuschauer aufgebaut, der »Tatort« weiträumig abgesperrt und von Sicherheitsdiensten abgeschirmt. Für die TV-Teams gibt es spezielle Standorte, nur um filmen zu können, wie das tapsige, vier Monate junge Raubtier seine neue Umgebung erkundet.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist »Flocke« nämlich unter Verschluss: Ein festes Pfleger-Team zieht das Neugeborene während der ersten Lebensmonate per Hand in einem abgeschotteten Raum des Betriebshofs auf. Auf keinen Fall sollen eingeschleppte Keime das wackelige Immunsystem des Bärchens gefährden. Denn der Tiergarten braucht nach einigen Misserfolgen bei Nachzuchten dringend eine positive Nachricht.
Grashalm im Verdauungstrakt
Tiergarten-Bürgermeister Horst Förther lässt den zoologischen Fachleuten zwar freie Hand, aber er will »Flocke« optimal vermarkten. Schließlich hat Eisbär »Knut« dem Berliner Zoo ein millionenschweres Plus in den Kassen und viel Publizität verschafft.
Auch in Nürnberg funktioniert der Mechanismus, aber in deutlich bescheidenerem Ausmaß. Morgendliche Live-Schaltungen von privaten TV-Sendern, Radio-Interviews und zahllose Artikel informieren über die Nahrung »Flockes«, ihre Spielgewohnheiten, ihren ersten Zahn oder auch über die sensationelle Nachricht, dass ein grüner Grashalm den Verdauungstrakt der kleinen Eisbärin verlassen hat. Der kuschelige, flauschige Star fasziniert die Massen. Oft vergessen die Bären-Fans, dass ein wildes Raubtier heranwächst. Der Eindruck »Ach, ist das süüüüß« überlagert alle rationalen Einschätzungen.
Kassensturz: 300.000 Euro Gewinn für den Tiergarten
Fast ein Jahr nach der Geburt macht der Tiergarten Kassensturz: 1,45 Millionen Euro Einnahmen stehen hohe Ausgaben gegenüber. Schließlich ist viel Geld nötig, um die erwarteten Besucherströme optimal zu bewältigen: Zusätzliche Kassen, WC-Container und weitere Parkplätze werden gebraucht. An Wochenenden sind die Seitenstraßen in die Wohngebiete gesperrt, um Anliegern Blechlawinen zu ersparen.
Unter dem Strich bleiben 300.000 Euro Gewinn, die der Tiergarten in Klimaschutz-Projekte steckt. So fließt ein Teil in die energetische Sanierung des riesigen Areals am Schmausenbuck - etwa in eine Hackschnitzelheizung für den Betriebshof. Gefördert wird auch eine neu entwickelte, kostengünstige Methode, wie man mit Hilfe digitaler Fotos die Wanderungen von Eisbären in der Natur dokumentieren kann.
<b>Botschafter gegen den Klimawandel</B>
Von Anfang an versucht Tiergarten-Direktor Dag Encke, den Publikumsliebling als Botschafter gegen den Klimawandel im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. »Das hat nicht funktioniert, die Leute wollten nur die niedlichen Bilder von ,Flocke‘ sehen«, räumt Encke ein. 50 Millionen Mal wird die städtische Internet-Seite zu »Flocke« angeklickt. Allein 50.000 Vorschläge zur Namensgebung gehen ein, 170.000 Mal blättern Interessierte im digitalen Gästebuch.
Das Nürnberger Eisbären-Mädchen ist im Internet-Zeitalter ein weltumspannendes Ereignis: In Japan, Australien, USA und vielen europäischen Ländern nehmen Tierfreunde Anteil. Allerdings erfüllen sich die wirtschaftlichen Erwartungen vieler Firmen nicht: Es gibt 400 Produkt-Vorschläge, die Stadt vergibt aber nur 28 Lizenzen - für Bücher, Stofftiere, T-Shirts oder Heftplaster. Die Umsätze halten sich in überschaubaren Größen. Während der zurückliegenden Osterferien verkauft der Kiosk im Tiergarten noch Restbestände von »Flocke-Devotionalien«. Doch das große Interesse der Öffentlichkeit ist vorbei, nachdem der emotionale Rührfaktor verschwunden ist. Aus dem flauschigen Knäuel ist ein kräftiger Teenager mit manchmal recht schmutzigem Fell geworden.
Tiergarten-Chef Dag Encke fasst seine zwiespältigen Erfahrungen zusammen: »Es bleibt eine staunende Faszination über den Medien-Hype, der von den Medien selbst nur bedingt zu steuern ist. Und es bleibt die beruhigende Erkenntnis für unsere Arbeit, dass Tiere die Menschen sehr tief bewegen. Ich habe aber große Bauchschmerzen über das mit vielen Fehlern behaftete Bild von den Eisbären, das sich bei den Menschen festsetzt.«
Kein dressierter Affe
Große Vorbehalte haben auch Tierschutz-Organisationen. Sie kritisieren von Anfang an grundsätzlich die nicht artgerechte Haltung von Tieren in Zoos, aber auch den konkreten Umgang mit »Flocke«. Sie wollen verhindern, dass das Raubtier wie ein dressierter Affe vorgeführt wird. Das große Interesse nutzen sie, um auf angebliche Missstände aufmerksam zu machen. Zum bevorstehenden Abschied meldet sich die »Tierrechtsorganisation Peta« noch einmal: Sie plädiert für einen Verbleib »Flockes« und ihres Gefährten in Nürnberg.
Der Transportstress sei für die Eisbären zu groß. Außerdem befürchten die Aktivisten, dass die Bären im künftigen Gehege in Antibes ständiger Beschallung mit Discomusik des benachbarten Delfinariums ausgesetzt sind. Auch sei es an der Côte d’Azur viel zu heiß für Eisbären. Tiergarten-Kritiker Frank Albrecht spricht von einer »Abschiebung in eine Art Disneyland«. Nürnbergs Tiergarten weist alle Einwände als unzutreffend zurück.
Zwei Tage bleiben für ein letztes »Ade«
Wer die zweijährige »Flocke« noch einmal am Schmausenbuck besuchen möchte, hat an diesem Wochenende Zeit, dem einstigen Medienstar auf fränkisch »Ade« zu sagen.

