In die Natur
Besuch bei den Eisbären im Rostocker Zoo
Ich war ein paar Tage an der Ostsee und neugierig auf Vilma, die Kanisterwerferin. Der Rostocker Zoo ist grosszügig angelegt mit viel Platz, nur müssten die Gehege erneuert werden. Als nächstes soll das Menschenaffenhaus neu errichtet werden. Man sammelt noch die Spenden dafür. Auch der Bärenfelsen entspricht nach Einschätzung des Zoos nicht mehr heutigen Anforderungen. Anfang der sechziger Jahre, als er errichtet wurde, war er eine der modernsten Anlagen in Europa.
Am 13. März war Eisbärenwetter und das Wasser im Graben noch gefroren. Die beiden Kodiakbären hielten sich zwecks Winterschlummer im Inneren des Geheges auf. Beim zweiten Besuch konnte ich einen der Kodiakbären erblicken, der verschlafen und dekorativ in die Sonne blinzelte.

Vilma, die Kanisterwerferin. © 2010 Anneliese Klumbies
Besuch bei den Eisbären im Rostocker Zoo
Ein Pictures-to-Exe Bilderreihe von 7 Minuten (21,5 Mb).
Vilma lagerte draussen und Vienna, ihre Mutter, steckte ab und an ihren Kopf aus dem Gehegeeingang auf der Suche nach Sensationen oder besser noch nach Futter. Der majestätisch anmutende Eisbärenmann Churchill lümmelte sich getrennt von ihnen im benachbarten Mutter-Kind-Gehege und dämmerte in der Sonne. Dann wurde es lebendig, denn von oben regnete es Äpfel.
Kurze Zeit später tauchte die Tierpflegerin vor dem Gehege auf und schmiss ein paar Runden Leckerli. Da kam Vienna aber auf Trab und verteidigte ihr Revier vor Vilma, d.h. sie drohte ihr mit ihrem Gebiss. Vilma war nicht so ängstlich und zeigte der Mama auch die Zähne.
Ich führte mit zwei Tierpflegern Gespräche und fasse deren Erzählungen hier zusammen:
Vilma ist die Tochter von Vienna. Im Alter von zwei Jahren kam sie nach Nürnberg, um dort nach 4 Jahren wieder Platz machen zu müssen für Flocke. Als Vilma nach Rostock zurückkehrte, erkannte die Mutter sie nicht wieder. Sie begriff ihre Tochter Vilma als Konkurrentin um Futter und Revier und wies ihr mit aufgerissenem Rachen, und bei Bedarf mit Gebrüll, ihren Platz zu.
Vilma wird von den Tierpflegern für nicht besonders helle gehalten; sie brauchte viele Monate, um zu begreifen, dass sie der Mutter besser nicht das Hinterteil darbot, denn Vienna nahm dieses verheissungsvolle Angebot stets wahr, um hineinzubeissen. Jetzt weiss Vilma, dass Vorwärtsverteidigung zwar von furchterregendem Gebrüll begleitet wird und die Gebisse gegeneinander klirren, aber die Konfrontationen ohne Blessuren abgehen.
Vilma ist ja eine grosse Werfkünstlerin und Jongleurin, aber ich konnte keine Kisten oder Kästen entdecken und verurteilte insgeheim schon die Pfleger als initiativlos. Nur eine riesige massive Plastikkugel war auf dem Eis zu entdecken. Vienna und Vilma fanden nach anfänglich wohlwollenden Untersuchungen der Kugel diese nicht sehr reizvoll, weil sie so massiv ist, dass man sie nicht zerbeissen kann.
Die Tierpflegerin erzählte mir nun, dass Vilma sämtliche Kisten und Kästen und alles übrige Werfbare von oben in den Graben schleudert und hinterherspringt. Man fürchtete, dass Vilma die Metamorphose des Wassers zu Eis und die Konsequenzen, die damit verbunden sind, noch nicht mitbekommen hatte, da sie ja ein wenig schwer von Kapee ist.
Man fürchtete, Vilma würde die Kisten und Kästen hinabwerfen in den Graben, und, wie gewohnt, einen Köpper hinterher machen. Deswegen also muss Wilma ohne ihre Wurfübungen auskommen, solange das Eis hält. Am 21. März, bei meinem zweiten Besuch, war das Eis weitgehend geschmolzen, bis auf wenige Eisschollen. Da bekamen sie zwei Kanister zugeworfen, mit jeweils einem Hering drin.
Es waren billige Plastikkanister, und die zerbissen und zerrissen sie vollständig und Vienna liess sich die Heringe schmecken. Bei Mutter und Tochter müssen die Fetzen fliegen! Allerdings hatte Vilma, als sie den Kanister bei ihren Jonglierübungen ein zweites Mal hinunterwarf, Hemmungen hinterherzuspringen.
Es waren noch Eisschollen auf dem Wasser und sie hatte wohl Befürchtungen, sich zu stossen. Wahrscheinlich weiss sie entgegen den Annahmen der Tierpfleger sehr wohl, welche Konsistenz Eis hat und welche Gefahren damit verbunden sind. Vienna war's recht; sie holte sich auch den zweiten Kanister inklusive Hering.
Vilma guckte sehnsuchtsvoll in den Graben, schien zum Sprung bereit, kletterte mit den Vorderpfoten den Abgrund hinunter, um immer wieder einen Rückzieher zu machen. Vienna freute sich. Wieder ein gelungener Tag mit doppelter Beute!
Wenn unser Berliner Zoodirektor nun von den verderbten Sitten im Rostocker Zoo wüsste! Die Rostocker Tierpfleger wussten von dessen merkwürdigen Ansichten, Plastikobjekte gleich Müll, und dessen Verbot, die Tiere durch geeignete Materialien zu beschäftigen. Ja, von dem hätten sie schon gehört. Die armen Tiere!
Den Rostocker Tierpflegern ist das Konzept der "Verhaltensbereicherung" geläufig: Anregungen zum Spiel durch Spielobjekte, viele kleine statt einer grösseren Mahlzeit, Umgestaltung des Geheges, um den Alltag interessanter gestalten zu können, z. B. Möglichkeiten zum Verstecken und Klettern schaffen usw. Über die Mängel ihrer Gehege sind sie sich bewusst. Es ist "nur" eine Frage des Geldes!

Churchill. © 2010 Anneliese Klumbies
Churchill ist schön, hat einen mächtigen Kopf, einen gewaltigen Körper und einen gefährlichen Gesichtsausdruck. Es kann sein, dass ich das Gefährliche nur gesehen habe, weil ich weiss, wie überaus bedrohlich er für die Eisbärenfrauen tatsächlich ist.
Bevor Churchill zum Einzelgänger verurteilt wurde, teilte er das Aussengehege mit den Frauen. Gab es Fleisch - nur zwei- bis viermal die Woche - erhob er sein Haupt und fixierte die drei Eisbärinnen (zwei Eisbärinnen sind in den letzten Jahren sehr alt gestorben), die sofort das Fleisch aus dem Maul fallen liessen und sich in ferne Ecken verdrückten. Statt einer hatte er dann regelmässig vier Fleischportionen.
Mit Vienna hat er insgesamt sechs Kinder gezeugt. Beim letzten Zeugungsversuch rutschte Vienna aus; das versetzte Churchill in eine so rasende Wut, dass er ihr eine riesige Fleischwunde am linken Oberschenkel zufügte. Vienna gelang die Flucht, bevor er sie totbeissen konnte. Die Pfleger waren Gottseidank wegen des Gebrülles zur Stelle, öffneten den Schieber und schlossen ihn sofort hinter Vienna, so dass es Churchill nicht gelang, Vienna ins Binnengehege zu verfolgen.
Die Tierärzte hatten viele Wochen mit der Pflege dieser riesigen Fleischwunde zu tun; sie hatte sich entzündet, eiterte noch nach Wochen. Vienna humpelt nun auf drei Beinen, weil sich die Sehnen am verletzten Bein verkürzt haben, hervorgerufen durch eine Schonhaltung.
Wenn's drauf ankommt, kann sie ihrer Tochter Vilma aber die guten Bissen abjagen, sie versucht es jedenfalls. Fell wird auf dieser Fläche nicht mehr wachsen. In der Wildnis hat man mit einer solchen Wunde keine Überlebenschance. Ganz abgesehen davon, dass Churchill sie da totgebissen hätte.

Vienna. © 2010 Anneliese Klumbies
Man will Churchill und Vienna nicht noch einmal zwecks Begattung zusammenführen. Man hält die Gefahr eines tötenden Bisses für gross, - zumal Vienna ja nicht mehr sicher steht. Und auch Vilma hat einen sanfteren Gefährten verdient (so einen wie Lars oder Knut).
So hat Churchill sein Alleinsein selbst zu verantworten, wenn es ihm auch nicht bewusst ist. Er ist nun über dreissig Jahre alt und, wie gesagt, ein schönes und imposantes Tier. Nur beim Treppensteigen wird ein arthritisches Humpeln bemerkbar. Ein Pfleger meinte, Churchill sei grösser als Troll; da bin ich mir aber nicht so sicher.
Auch Vienna und Vilma sind ausgesprochen schöne Eisbärinnen. Sie vertreiben sich die Zeit mit anregendem Streit um das Futter und um die interessantesten Plätze im Gehege. Sie tun sich nicht wirklich etwas.
Während meines Nachmittags am 13. März erhielten die Eisbären drei Mahlzeiten: Äpfel, weil sie morgens zu wenige erhalten hätten, dann Hunde-Leckerli, kurz darauf Heringe. Die Tiere erhalten nur zwei- bis viermal die Woche Fleisch. Ausserdem gäbe es Fastentage. Da kann uns' Knut sich glücklich schätzen. Die Tierpflegerin meinte, in der Wildnis müssten sie häufig hungern. Das stimmt. Aber auf das regelmässige Fressen im Zoo kann sich schnell jedes Zootier einstellen. Zumal die Mahlzeiten ja die Höhepunkte des Tages sind. Leben in der Wildnis hin oder her: Der Bär wird enttäuscht sein, wenn das Essen ausfällt. "Und das wollen wir doch nicht!" (TD)
Ich fragte die Tierpflegerin, ob man die Tiere streicheln könne. Nein, das wäre nur bei den beiden verstorbenen Eisbärinnen möglich gewesen, und auch nur, weil diese sehr alt gewesen seien. Und was würde passieren, wenn man eine Hand durchs Gitter stecken würde? Die wäre weg, was nicht notwendigerweise als aggressiver Akt zu verstehen sei, sondern als ein Reflex. Die Hebelwirkung des Gebisses sei so kraftvoll, dass man schon ein Knut sein müsse, um diese auszusetzen.
Der Pfleger erinnerte noch einmal an den Braunbären, der im letzten oder vorletzten Jahr die Bärin getötet hatte, mit der er erst kurze Zeit zusammen war. Das Kennenlernen und die erste Zeit des Zusammenlebens seien harmonisch verlaufen. Doch dann sei irgendetwas schief gelaufen, womöglich beim Begattungsakt, und der Bärenmann hat die Bärenfrau totgebissen - was bei ihrem Zahn- und Kieferwerkzeug leicht zu bewerkstelligen sei. Schädeldecke oder Halswirbel seien leicht zu knacken für das Gebiss eines erwachsenen männlichen Eisbären oder Braunbären.
Ein bekannter Zoodirektor hat mal erklärt, er würde Braunbären weniger trauen als Eisbären. Eisbären wären vorsichtiger bei Raufhändeln, weil auch kleine Verletzungen in der Arktis mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führen, allein wegen der Eiseskälte, die durch eine Wunde in den Körper dringen kann. Mir leuchtet das ein. Aber vielleicht sind die Eisbärenmänner nur vorsichtig gegenüber ihrem eigenen Geschlecht - Eisbärenfrauen sind ihnen ja unterlegen. Und Eisbärenkinder sind ihnen natürlich eine leichte und gefahrlos zu erlangende Beute.
Um mal Knut aus seinem Tagebuch zu zitieren: "Seit ich die Eisbären kenne, liebe ich die Menschen!" ("Wer war Knut?", Seite 59) Jedenfalls kann ich nicht mehr ganz ausschliessen, dass der "Eisbär an sich" ein Raubtier ist. Wie wir wissen, gibt es unter ihnen aber Nonkonformisten wie Knut und man sollte sowieso, wie wir ebenfalls wissen, die Individuen differenziert beurteilen.

Vilma mit Kanister. © 2010 Anneliese Klumbies
Interessant ist die Frage, ob und wieweit Eisbären durch angeborenes Verhalten in ihren Aktionen bestimmt sind oder ob sie bei anderen Sozialisationsbedingungen andere, nicht festgelegte, Möglichkeiten der Entwicklung haben. (Ich erlaube mir, noch einmal auf mein Buch und die Kapitel "Knut als Gärtner", "Knut und der Artenschutz" und "Warum wir von Knut so tief beeindruckt sind" hinzuweisen.)
Übrigens sei an dieser Stelle auf die Sonderausstellung "Bestiarium" von Walton Ford im "Hamburger Bahnhof" (Berlin) hingewiesen. Dort befindet sich ein wandfüllendes Riesengemälde mit einem "Eisbären des Grauens" - furchtbar um sich blickend und umgeben mit Knochen, Schädeln und Kadavern. Die Ausstellung läuft noch bis zum 24. Mai.
Der oben zitierte Zoodirektor hat übrigens gemeint, dass es gut für Knuts Sozialisation als Eisbär sei, wenn er das erste Mal mit einer erfahrenen älteren Eisbärendame zusammenkäme, die ihm selbstbewusst zeigen würde, wo's langgeht. Nun, älter ist Giovanna nicht, aber an Selbstbewusstsein mangelt es ihr ganz gewiss nicht. Insofern ist sie die richtige Wahl für die Gewöhnung an Eisbärinnen. Zweifellos wird Knut sich künftig anderen Eisbärinnen mit Respekt nähern. Aber vorsichtig würde Knut in jedem Falle sein, das ist seine Natur. Für mich ist es unvorstellbar, dass er sich mal zu einem Churchill entwickelt.
Folgende Fragen sind mir angesichts der Tierpfleger-Berichte eingefallen:
- Wenn Vienna sich nach drei Jahren nicht mehr an Wilma erinnern konnte, an was und wen kann Knut sich aus seiner Kindheit erinnern?
- Mir fällt noch eine zweite Interpretationsmöglichkeit ein: Vienna konnte sich sehr wohl an Wilma erinnern, aber im Eisbärenleben verlieren die Kinder den Kinderstatus mit der Trennung von der Mutter. Dann sind sie nur noch um Nahrung konkurrierende Eisbären, ohne jede sentimentale Erinnerung.
- Bei Knut kann man sich nicht vorstellen, dass er einen Köpper in den zugefrorenen Graben macht.
- Giovanna hingegen ist/war tollkühn, wagemutig, verwegen, sich gefährdend, besonders in der Anfangszeit in Berlin. Sie hat mehrere Stellen im Fell, die auf Verletzungen hindeuten. Die Pfleger hier in Berlin wissen nicht, wo und wie sie sich die Stellen zugezogen hat, erklären sie aber mit ihrem unvorsichtigen Verhalten. Würde Giovanna in einen leeren oder zugefrorenen Graben springen, womöglich mit Köpper oder Rückwärts-Salto, wie man das bei Vilma befürchtet?
Ein mit viele Bilder illustrierte Version von diesem Besuch bei den Eisbären im Rostocker Zoo von Anneliese Klumbies finden Sie, in zwei Teile, in das Knutitis-Forum: Teil 1 und Teil 2 und in das World of Animals-Forum in das Thread: Eisbären in anderen Zoos (ein Bisschen nach unten scrollen bitte).


