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Wie viel Mutter braucht ein junger Elefant? von Dr. Fred Kurt
Tiefes Grollen erfüllt den nächtlichen Dschungel. Eine Elefantenfamilie kündigt Nachwuchs an. Aus der Ferne antworten die anderen Familien. Das Neugeborene strampelt sich frei von den Embryonalhüllen. Mutter und Tanten helfen. Sie stützen mit ihren Rüsseln das zerbrechliche Wesen beim Aufstehen und den ersten Gehversuchen und helfen ihm die Mutterbrust zu finden. Für den dichtbehaarten Zwerg mit den roten Ringen um die Augen ist jeder andere Elefant ein guter Elefant. Zu welcher Mutter er gehört, merkt es erst allmählich während seines ersten Lebensmonates.
Die Mutter und gelegentlich erwachsene Tanten stillen das Neugeborene, das bereits im zweiten Monat beginnt, mit Gegenständen zu manipulieren und in den Mund zu schieben. Darunter sind auch kleine Pflanzenteile, welche die älteren Familienmitglieder absichtlich vorbereitet und fallen gelassen haben. So lernt das Neugeborene rasch zwischen Ungenießbarem und Bekömmlichen zu unterscheiden. Muttermilch und Futterklau garantieren rasches Wachstum. Kurz nach dem Ende des zweiten Lebensjahres trinkt der Nachwuchs nicht mehr regelmäßig. Die Mütter unterbrechen den Versuch mit einem Vorschritt. Doch sie belohnen Gehorsam mit kurzem Stillen, wenn die Jungen auf das laute Ohrschlagen hören und ihnen nachfolgen. Mit Ohrschlagen leiten ältere Elefantinnen Ortverschiebungen ein, denen jüngere Gruppenmitglieder gehorchen. Dem Belohnungssäugen weicht mit zunehmenden Alter ein kurzer Rüsselkontakt mit der Matriarchin.
Im Alter von zwei bis drei Jahren haben junge Elefanten gelernt, das Futter effizient vorzubereiten, also in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Nahrung mit dem Rüssel in den Mund zu befördern, so dass der Kauprozess nicht unterbrochen wird. In diesem Alter erscheint auch der dritten Backenzahn. Er ist der erste, der sich zum Zermahlen der Pflanzenteile eignet. Futterklau ist jetzt nicht mehr nötig. Der Heranwachsende hat eine gewisse Selbstständigkeit erreicht und schläft tagsüber auch nicht mehr unter oder neben einem älteren Artgenossen. |
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Bis ins dritte Lebensjahr schlafen Elefantenkinder viel und verbrauchen wenig Zeit mit Nahrungsaufnahme. Sie spielen oft und entfernen sich gelegentlich übermütig und neugierig gefährlich weit von der Familie. Ältere Elefanten müssen täglich stundenlang fressen. Sie schlafen wenig und haben kaum Zeit für Badespass und Spiel. Die Aktivitätsmuster von Säuglingen und Selbstständigen könnten kaum unterschiedlicher sein und bringen logistische Probleme, die nur durch Arbeitsteilung und strenge Organisation gelöst werden können. Halbwüchsige sind dabei besonders gefordert. Sie haben mit den Säuglingen zu spielen oder besser gesagt sich als „Sandsäcke“ hinzustellen, die Attacken der Kleinen abzufangen und sich dabei nicht zu wehren. Holen sie zum Gegenschlag aus, prügelt sie unverzüglich der Rüssel einer Mutter. Mit etwa vier Jahren holen besonders junge Weibchen, Säuglinge in den Verband zurück, wenn die sich zu weit entfernen. Bereits mit sechs Jahren bewachen sie schlafende Kinder und bald werden sie ihnen helfen beim Erklingen von steilern Wegstrecken oder beim Durchwimmen vom Gewässer. Diese altruistischen Verhaltenweise lernen sowohl junge Weibchen wie auch junge Bullen und sie werden sie, falls nötig auch später jederzeit gebrauchen.
Man mag sich fragen, was ein Elefant selbst von seiner extremen Nächstenliebe hat. Kümmert er sich um die Säuglinge, so verliert er doch wichtige Zeit, in der er für sich sorgen, d.h. vor allem fressen könnte. Auf den zweiten Blick erscheint aber die Nächstenliebe der Elefanten schon fast eigennützig. Denn wer sich um Säuglinge kümmert, darf sich in der Nähe der Matriarchin aufhalten, steht gewissermaßen unter ihrem Schutz und kann damit rechnen, dass ihm später, wenn er eigene Junge hat, auch geholfen wird. Die Matriarchin kennt die jeweils erträglichsten Futterzonen. Nähe zu ihr, verspricht optimale Nahrung. Zudem hilft der Altruist ja sehr nahen Verwandten und erhält damit indirekt sein eigenes Genom. Vor allem durchläuft ein hilfsbereiter Halbwüchsige aber eine Lehrzeit, die später, wenn er selber Junge hat, ausschlaggebend für deren Zukunft sein könnte. Kurz: Altruistisches Verhalten ist adaptiv, will heißen arterhaltend.
In der Abbildung habe ich schematisch die Entwicklung einer wichtiger Sozialverhalten dargestellt, die sich auf Fürsorge für den Nachwuchs beziehen. Sie gehen auf meine Studien zwischen 1967 und 1999 in Yala und Uda Walawe auf Sri Lanka zurück. Daraus geht hervor, dass ein im Familienverband aufwachsender Elefant in den ersten drei Lebensjahren von seiner Mutter und anderen Familienmitgliedern fürsorglich behandelt wird und dabei gewissermaßen passiv wichtige Verhaltensweisen im Umgang mit Säuglingen lernt. Wenn ein Heranwachsender vierjährig wird, bringt seine Mutter ein jüngeres Geschwister zur Welt. Jetzt lernt der Halbwüchsige aktive Säuglingspflege. So kennen Elefantinnen bereits, bevor sie selber Mütter werden, das kleine Einmaleins der artgerechten Säuglingspflege. |
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Die Stichhaltigkeit dieser Theorie lässt sich an Zoobeobachtungen überprüfen: 29 Elefantinnen, die sehr früh, d.h. spätestens im dritten Lebensjahr, von ihren Müttern und Familien getrennt worden waren, brachten insgesamt 51 Junge zur Welt. Zwei Drittel von ihnen wurden von ihren Müttern entweder getötet oder nicht angenommen. Offenbar hatten die meisten dieser allzu früh entwöhnten Weibchen selbst nicht genügend Fürsorge erlebt und dabei gelernt, nachsichtig und liebevoll mit den eigenen Kindern umzugehen. Ganz anders verhielten sich dagegen 34 Elefantinnen, die frühestens im vierten Lebensjahr von Müttern und Familien entwöhnt worden waren: Von ihren insgesamt 61 Nachkommen überlebten 80%.
Für die Erhaltung des Elefanten in Zoos ist es demnach von fundamentaler Bedeutung, dass Mütter und Töchter genau gleich wie in Wildbeständen zeitlebens zusammen bleiben, und – falls nötig – auch gemeinsam zwischen Haltungsorten verschoben werden. Genau dies schlägt Dr. Ton Dorrestyn, der EEP-Koordinator für Asiatische Elefanten in Europa, vor. Haltung in der natürlichen Familie bringt viele Vorteile: Geburten im Verband verlaufen ruhiger und sicherer, weil erfahrene unerfahrenen Müttern helfen können. Das beweisen Erfahrungen in den Zoos von Emmen und Rotterdam. Junge Elefanten, die in Kontakt mit ihren Müttern und Tanten aufwachsen, unterscheiden sich bei beiden Arten wesentlich von gleich alten Waisen: Sie wachsen schneller und pflanzen sich später früher und erfolgreicher fort. Sie sind gegenüber gleich alten Artgenossen ranghöher, und gegenüber Pflegern „frecher“, also angriffslustiger.
Aus diesem Grund trennen in Südasien die Mahouts Kälber, die in Dschungelcamps zur Welt kamen, von ihren Müttern, bevor sie die plötzlich Verwaisten einbrechen, d.h. brutal gefügig machen und dressieren. Einbrechen und Dressur eines Kalbes, dessen Mutter in der Nähe steht, wird nach der zwei- bis dreitausend Jahren alten südasiatischen Haltungstradition für Menschen und Elefanten als zu gefährlich betrachtet. Ein mutterlos gewordener junger Elefant dagegen sieht, was Fürsorge und Pflege anbelangt, zwangsläufig in seinem Führer den einzigen verlässlichen Kumpan, dem er sich untertänig anschließt. So können sich allmählich sogar enge Beziehungen zwischen Mensch und Elefant entwickeln. Das galt bisher häufig auch für Zoo und Zirkus; denn zwei Drittel der bis anhin importierten Asiatischen Elefanten waren höchstens drei Jahre alte Waisen, als sie in den Westen kamen. |
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Jetzt aber mehren sich erfreulich die Zuchterfolge hinter Graben, Glas und Gitter. Mütter und Nachwuchs sollen zusammenbleiben, heißt die Devise. In Haltungssystemen mit direktem Kontakt ist das Dilemma programmiert; denn der Anwesenheit von Mutter und möglicherweise Tanten macht den Menschen zweitrangig und drängt den Pfleger, der sich dem Nachwuchs annehmen und ihn dressieren will, unmittelbar zum Statisten. Der junge Elefant orientiert sich nämlich vertrauensvoll an seiner Mutter und betrachtet andere Gruppenmitglieder oft als Objekte ihrer Rempeleien. In der wild lebenden Familien ist den Säuglingen nahezu alles erlaubt, vorausgesetzt, sie bleiben im Verband. Deshalb lassen die Mahouts in den Dschungelcamps von Myanmar (Burma) die Nachkommen ihrer Arbeitstiere bis nach dem vierten Lebensjahr unbehelligt und niemand darf sie berühren. Offensichtlich will man Rempeleien, die für Menschen gelegentlich tödlich enden könnten, vermeiden.
In einigen Zoos ist dies anders. Früh übt sich, was ein Meister werden will, heißt ihre Devise. Und damit alles störungsfrei verläuft, trennt man die Säuglinge während ihren Lektionen vorübergehend von der Familie, die laut grollend und brüllend nach ihnen ruft. Solche Schüler sind unaufmerksam, können nicht einsehen, warum sie nicht dem angeborenen Verhalten folgend die Sicherheit der Familien finden dürfen. Damit erzwingen sie besonders harten Hakeneinsatz. Versucht nun ein Pfleger aus Unkenntnis simplen Wissens über das Sozialverhalten der Elefanten, dreist als selbsternanntes „Super-Alpha“ den Nachwuchs zu beherrschen, indem er ihm, aus Elefantenperspektive gesehen, sinnloses Zeug wie Fußheben, Abliegen oder gar zirkusreifes Hoch- und Kopfstehen beizubringen versucht, wird sich der Zögling widersetzen. Ketten und Haken werden ihn anfänglich zurückhalten. Elefanten vergessen aber nie. Irgendeinmal zahlen sie zurück und nehmen ihre Pfleger gezielt an. Dazu gibt es reichlich Beispiele von zoogeborenen Elefanten, die im Beisein ihrer Mutter dressiert wurden, so etwa „Madura“ im Circus Knie, „Komali“ und „Panang“ im Zoo Zürich, „Berhardini“ im Zoo Rotterdam oder jetzt „Abu“ in Wien.
Natürlich gewachsene Mutterfamilien, die in direktem Kontakt zum Menschen gehalten werden, verlangen einen neuen Pflegertyp, nämlich einen verlässlichen und nachsichtigen Kumpan und nicht einen dominanten Selbstdarsteller. Das Haltungssystem heiße dann: Direkter Kontakt ohne Konfrontation. |
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